Statt eines Blog-Beitrages heute eine kleine Leseprobe aus meinem neuen Roman. Das fertige Buch ist dann voraussichtlich Anfang Juni (diesen Jahres) im Amazon Kindle-Shop erhältlich. Viel Spaß!
Die Augen des Jungen bohrten sich in seine. Er schien keinerlei Angst zu empfinden. Nahm er überhaupt etwas wahr? Verstand er, was hier passierte? Und wenn er es verstand, störte es ihn?
Es ist das Richtige, dachte Tom. Alles geht den Bach runter, wenn ich das jetzt nicht bringe.
Kurz flackerten Erinnerungen an sein Studium auf. Philosophie. Die Lehre von den Fragen, auf die es keine Antworten gibt, hatte sein Prof damals immer gesagt, und genau so gab Tom das inzwischen an seine eigenen Studenten weiter.
Würdest du einen unschuldigen Menschen töten, wenn dadurch eine Million andere Menschen vor dem Tod gerettet würden? Solche Fragen. Wenn ja, würdest du es auch noch tun, wenn dadurch stattdessen immerhin noch 1000 gerettet werden? Ja? Wo ziehst du die Grenze? Würdest du einen Unschuldigen töten, wenn dadurch 100 andere gerettet werden? 10? 5? Und wie würden sich deine Entscheidungen ändern, wenn es ein Kind wäre, das du töten musst?
Ein Kind. Tom schluckte. Er spürte, wie er immer stärker schwitzte. Wie leicht lassen sich solche Fragen diskutieren, wie logisch lässt sich so etwas entscheiden. Bis es dann ernst wird. Bis man dasteht, mit dieser verfluchten Automatik in der Hand und einem der Schweiß aus allen Poren schießt.
Ein Kind. Du kannst doch kein Kind erschießen.
Damals war er sich sicher gewesen, dass er es könnte. Wenn dadurch eine Million Menschen gerettet werden. Rein hypothetisch natürlich. Mit dem Hintern auf einer Holzbank und wenige Minuten vor Ende der Vorlesung. Und danach ab in die Mensa.
Und jetzt? Wie einfach wäre die Entscheidung, wenn es hier um eine Million Leben ginge, dachte Tom. Oder um sein eigenes. Lass die Million doch zum Teufel gehen, dachte er.
Aber es war keine Million. Auch nicht 10 Millionen. Es waren alle. Die ganze gottverdammte Menschheit stand auf dem Spiel. Wenn er das jetzt nicht brachte, würde die Gesellschaft, wie er sie kannte, aufhören zu existieren. Für immer.
Einen No-Brainer nennt man so etwas. Etwas, worüber man gar nicht erst nachzudenken braucht. Natürlich muss man schießen, das weiß jeder. Ein einziges Kind im Tausch gegen alle Menschen. Ein einziges Kind im Tausch gegen alle anderen Kinder. Da gibt’s nichts zu diskutieren. Das muss man einfach tun und dann eben irgendwie lernen, damit zu leben.
Ganz einfache Entscheidung.
Außer natürlich, wenn es dein eigenes Kind ist, das du töten musst.
Dein eigenes verdammtes Kind. Und es sieht dich an, als wäre nichts. Als würdest du nicht mit einer großkalibrigen Waffe direkt auf sein Gesicht zielen.
Tom Rankovski wusste, dass er keine Wahl hatte. Es gab einfach keine Alternativen. Er atmete tief durch und umfasste die Waffe noch etwas fester. Sein Sohn rührte sich nicht, sah ihn nur an. Wenn es doch einen Weg gäbe… aber den gab es nicht.
Ein deutlicher Klick ertönte, als er den Hahn spannte. Drei Tage. Noch vor drei Tagen war alles in Ordnung gewesen. Alles perfekt. Er der glücklichste Mensch der Welt. Seine Frau an seiner Seite. Die Zukunft voller Pläne und Verheißungen. Ja, die Zukunft. Da hatte er noch eine Zukunft gehabt… oder das zumindest geglaubt. Jetzt, nur drei Tage später, stand die Welt am Abgrund. Und er hatte keine andere Wahl, als seinen eigenen Sohn zu erschießen.